KRÄHENBÜHL&CO
Pressestimmen
MEIN BLAUES HERZ
Ungureanu/Mösli/Kappeler/Krähenbühl
Bezauberndes Kleinod
P.S. von Thierry Frochaux, 21.12.2018
Die Gruppenarbeit «Mein blaues Herz» über die rumänische Sängerin Maria Tanase ist eines der eher raren Exemplare von Kunstherstellung auf Bühnen oder Leinwänden, bei denen alle Einzelkomponenten stimmig ineinanderspielen und so ein nur beglückendes Resultat ergeben.
Maria Tanase (1913 – 1963) war schon zu Lebzeiten eine überlebensgrosse Künstlerin mit einem sagenhaft spannenden Leben in turbulenten Zeiten und ist noch heute für nachgeborene Exil-RumänInnen eine Projektionsfigur für schwelgerisches Heimweh. Eine solche Figur kann einzig als Heroin gefeiert werden, was häufig mit einer Hit-Aneinanderreihung mit einem Anflug von Pomp gelöst wird und dafür den Preis potenzieller Langweile kostet. Die reine Kritik an einer ausschweifenden Lebensführung und dem sportlichen Anpassen an mehrere, wechselnde Regimes, um weiterhin auftreten zu dürfen, kann zur verkopften Dekonstruktion führen und dabei jeglichen empathischen Zugang zur von ihr mit Gesang ausgelösten Begeisterung unterschlagen und damit jedes sinnliche Erlebnis kosten. Einem rein persönlichen Zugang wiederum als dritte mögliche Variante einer künstlerischen Bearbeitung von Leben, Werk, Mythos droht die Schieflage den/die RezipientIn zu gewichtig wirken zu lassen und damit das eigentliche Ziel zu verfehlen. Sollen Begeisterung, kritische Hinterfragung und individueller Zugang miteinander zu einem stimmigen Einklang verwoben werden, gleicht diese Aufgabe für den Idealfall des Reüssierens einem zirzensischen Balanceakt, und genau dieser ist Sebastian Krähenbühl (Regie), Iriana Ungureanu (Gesang), Vivianne Mösli (Schauspiel) und Vera Kappeler (Musik) nachgerade kongenial geglückt.
Es ist nicht einfach, aber wirkt exakt so
Ein geflüsterter frommer Wunsch eröffnet den elegant-filigranen Balanceakt, in dem sogar das einfach-raffinierte Bühnenbild von Beni Küng als stummer Darsteller amtet. Ein einfacher Holzverschlag mit Häkeldeckenvorhängen, der mit der manuellen Kurbel einen Aufstieg auf die Bretter der Welt auf dem kleinen Dach genauo trefflich illustrieren kann wie die Showtreppe, die rückwärts bewältigt, auch den regimebefohlenen Untergang mit öffentlicher Plattenzertrümmerung als konstante Drohung mitverhandelt und dessen – mühselig von Frauenhand angestossene – Drehfunktion gleichermassen den Schwindel eines kometenhaften Aufstiegs wie auch die prekäre Grosswetterlage ständig wechselnder politischer Machthaber und Systeme darstellt. Sich in voller Fahrt singend auf dem Dach zu halten wird zur sinnbildlichen Kombination aller Elemente. Während Vivianne Mösli als Erzählerin zur beschönigenden Heldinnenverehrung tendiert, unterbricht sie Irina Ungureanu mit Präzisierungen, die ein nicht ganz so glamourös-märchenhaftes Bild ergeben. Vergleichbar raffiniert ist der Umgang mit den Moralvorstellungen von heute, wenn sie eine fantasiereich aufrechterhaltene Karriere inklusive vollem Körpereinsatz zur simplen Mittäterschaft, also letztlich der Schuld per se abstempeln will. In der schönsten Volksliedmelodie beginnen Klaviersaiten zu scheppern und das Naturell von Kindheitserinnerungen, das gesamte Farbspektrum mit reinem Rosa zu übertünchen, stellt das zeitgleiche, kritische Hinterfragen den Schwebezustand latenter Unsicherheit gegenüber dem Tatsächlichen wieder her. Denn vieles ist in dieser nicht chronologischen Annäherung nicht abschliessend verifizierbar und wie sehr sich das Team dessen bewusst ist, blitzt immer mal wieder jedes publikumsseitige Versinken in Schwelgerei brechend auf. So ist «Mein blaues Herz» alles zugleich: Eine huldvolle Würdigung des gesanglichen Werks, eine kritische Betrachtung eines ausgeprägten Divenbewusstseins in der Attitüde, eine relativierende Verortung der Vielzahl von Gerüchten und Anekdoten über einen ausschweifenden Lebenswandel, Übersetzung und Interpretation von rumänischem Liedgut mit gleichenfalls mitgeliefertem Zweifel am Begriff ‹Volks›lied, Koketterie mit Witz und Wissen und merkliches, furchtbar aufrichtiges Interesse am Untersuchungsgegenstand, das sich im Spiel wie von allein in Charme verwandelt. Also auch die ausgelösten Gefühle von Freude bis zur Schwermut in einer fein austarierten Balance behält. Wie wenn die grösste akrobatische Kunstanstrengung so leicht von der Hand ginge, als wäre das ganz einfach. Wenn ich etwas zu melden hätte, «Mein blaues Herz» wäre für die Auswahl des nächsten Schweizer Theatertreffens gesetzt.
Diese verfluchte Liebe am Untersee
TAGBLATT von Stefan Hilzinger, 9.1.2019
Hierzulande kennt kaum jemand ihren Namen: Maria Tănase, geboren 1913 in Bukarest. Gestorben daselbst 1963. Ihren Leichnam wollte sie der Wissenschaft überlassen, von ihrem Tod hätte niemand etwas erfahren sollen. Doch stattdessen säumten Hunderttausende die Strassen der rumänischen Hauptstadt, als Maria Tănase zu Grabe getragen wurde. Die Sängerin war schon zu Lebzeiten eine Legende und ist es in ihrer Heimat auch heute noch.
«Mein blaues Herz» heisst das Stück über Maria Tănase, das am Dienstabend im Phönix Theater Steckborn zu sehen war. Geschrieben hat es Irina Ungureanu, eine Schweizer Sängerin und Musikerin mit rumänischen Wurzeln. Ungureanu und Schauspielerin Vivianne Mösli als ihr Alter Ego, unterstützt von Vera Kappeler an Klavier und Harmonium, berichten sehr persönlich vom Schicksal der exilierten Familie Ungureanu und entwickeln dazu ein Porträt der Sängerin, die in ihrer Heimat oft verklärt wird, deren Biografie aber voller Brüche und Widersprüche ist.
14 Konzert in einer Nacht
Das Publikum liegt Tănase zu Füssen. Im Bukarest der späten 1930er-Jahre gibt sie in einer Silvesternacht allein 14 Konzerte. Beim letzten Auftritt kurz vor Morgengrauen weigert sie sich zu singen, bevor nicht die Gäste die schon etwas locker sitzenden Kleider in Ordnung gebracht hätten. «16000 Lei – den Gegenwert von 60 Damentaschen – verdient sie in der Nacht, erfährt das Publikum. Sie singt für alle. Für die Kommunisten vor dem Zweiten Weltkrieg, für die Faschisten während des Kriegs und für die Sowjet-Kommunisten nach 1945.
Maria Tanase (1913 bis 1963)
Nach einem Konzert in Istanbul noch vor dem Krieg gibt es Gerüchte, sie arbeite als Spionin für die Briten. «Ein Nachtclubtänzerin spioniert für die Engländer», wirft ihr Alter Ego ihr vor. «Ich bin keine Nachtclubtänzerin und auch keine Nachtclubsängerin», empört sich die Sängerin. «Für die Faschisten habe ich nur gesungen, um meine jüdischen Freunde zu retten.»
Tănase ist die Tochter eines schwermütigen Gärtner-Ehepaars, die bei den Angestellten Volkslieder aus allen Regionen des Landes hört und diese verinnerlicht und auf ihre unverkennbare Art interpretiert. «Sie hat kein Musik- und Taktgefühl», werfen ihr akademische Kritiker an den Kopf. Doch sie singt von verfluchter Liebe und vergeblicher Sehnsucht, von Tod und Trennung, vom guten Roséwein und vom Segen des Tabaks. Ihr Gesang trifft die geheimnisvolle, widersprüchliche rumänische Seele, sogar dann, als nach dem Krieg die Kommunisten ihre Musik für ihre Propaganda instrumentalisieren.
Gerne hätte man sie noch mehr singen hören
Die subtile Inszenierung lebt von den wechselnden Rollen der beiden Hauptdarstellerinnen, vom intelligenten, beweglichen Bühnenbild und von der Musik Ungureanus. Sie trifft Tănase in Gestik und Tonalität wunderbar. Gerne hätte man sie noch häufiger singen gehört. Berührend auch die Stellen, wo alte Tonbandaufnahmen zu hören sind, welche Ungureanus Grossmuter ihr in die Schweiz geschickt hat, mit «diesen schönen rumänischen Wörtern». «Inima», «Suflet» hört man da schwach im Rauschen, was zu deutsch «Herz» und «Seele» bedeutet.
Der Räuber
von Robert Walser
Schenkelklopfer? Aber ja!
NZZ von Katja Baigger, 19.03.2017
Robert Walsers Figuren sind Titane des Zauderns und Flaneure ohne Obdach.
In Zürich lässt sie der Regisseur Niklaus Helbling bravourös auf einem Campingplatz hausen – oder in einem Variété?
Hat man je ein charmanteres Provisorium gesehen? Ein kleines Festzelt bildet das Zentrum dieser Rumpelkammer. Unter dem Zelt steht ein mit Pin-ups verzierter Schrank, links davon ein Paravent, rechts wird mit faltbaren Matratzen ein Bett angedeutet. Einen Schminktisch gibt es auch in Sara Giancanes bezaubernd-chaotischem Bühnenbild, das irgendwo zwischen Variété und Camping zu verorten ist.
Mit dieser Textmöblierung setzt Giancane den Gestalten aus Robert Walsers Romanen, den Titanen des Zauderns und den Flaneuren ohne feste Bleibe, ein vergängliches Denkmal. In dieser Kulisse filmen sich die Figuren aus dem «Räuber»-Roman mit zwei mobilen Kameras, die in Köfferchen versteckt sind. Die Schwarz-Weiss-Videos werden auf den Paravent projiziert und flimmern über einen Fernsehbildschirm. Solch witzige Einfälle passen zum phantasiebegabten Schweizer Theatermacher Niklaus Helbling. Längst hat er in Hamburg seine neue Heimat gefunden und inszeniert in Deutschland und Österreich; im Zürcher Theater Winkelwiese hat er Walsers «Räuber» für die Bühne adaptiert.
Frauentausch
Der «Räuber»-Text von 1925 liegt als Entwurf in den Mikrogrammen vor und wurde von Jochen Greven 1972 erstmals entziffert. Niklaus Helbling destilliert für die Spielfassung aus dem Walserschen Assoziationsreigen die Frauengeschichten heraus. Er übernimmt Walsers janusköpfigen Erzähler (Sebastian Krähenbühl), der bald auch als Räuber auftritt, und stellt ihm die vom Räuber angebetete Saaltochter Edith (Mareike Sedl) als Muse zur Seite.
Das Duo lockt die Zuschauer in einen Irrgarten aus Abschweifungen und Ausschweifungen. Bisweilen verheddern sich die zwei Schauspieler selber in den Sätzen, was man ihnen in Anbetracht der Inkohärenz des Textes verzeiht. Das Spiel im Spiel treibt der Regisseur auf die Spitze. Die zwei Erzählfiguren verkörpern auch das Personal im Roman. Die Edith der virtuosen Mareike Sedl schlüpft in die Rollen und Kleider sämtlicher Frauenfiguren vom bürgerlichen Mädchen Wanda über einige Prostituierte bis zur Zimmervermieterin Selma. Derweil changiert Sebastian Krähenbühl im schwarzen Anzug zwischen Erzähler und Räuber unmerklich hin und her, wie das schon bei Walser angelegt ist.
Graue Perücke, bunter Morgenmantel
Zunächst wohnt der Bohémien, dessen Berufung es ist, «Neigungen» zu rauben, bei der Witwe mit dem Löffeli. Das «Poesiezwielicht» in der Küche treibt ihn an, den Löffel, welchen sonst die Hübsche zum Mund führt, zu küssen. Für den Dialog, in dem der Räuber der Witwe sein Tun beichtet, zieht die Muse Edith eine graue Perücke und einen bunten Morgenmantel über; die köstlich-schrägen Kleider hat ebenfalls Sara Giancane arrangiert. Mit Witz verkörpert Mareike Sedl die indignierte Witwe. Wie viel Theatralik, Humor und Absurdes doch in Walsers Prosa steckt!
War Melancholie bei der Lektüre eine ständige Begleiterin, so ist es beim Zuschauen die Komik, die Helbling glänzend herausarbeitet. Schenkelklopfer bei Robert Walser? Aber ja! Etwa in jener Szene, in welcher der Räuber einen Arzt aufsucht und ihm anvertraut, dass er sich manchmal als Mädchen fühlt. Der Schauspieler Krähenbühl gibt hier gekonnt den Verklemmten. Und als er aus der Kiste steigt, in der er zuvor gesessen hat, trägt er Strapse und spielt nun Selma – eine gelungene, weil überraschende Einlage.
Auch Edith hat sich unterdessen gewandelt, sie steht im Anzug da. Fortan verkörpert sie den Erzähler und Räuber. Der Rollentausch führt zu verwirrenden Erotikszenen. Es ist klug, wie Helbling die Travestie als Mittel einsetzt, um die Walsersche Uneindeutigkeit zu versinnbildlichen. Die Vielstimmigkeit im Text unterstreicht Helbling mit den Schwarz-Weiss-Videos der Gesichter, die wie lebendig gewordene Fotografien wirken. Die Filme eröffnen neue, auch historische Perspektiven auf die Figuren. Ein wahrlich verschlungener Bühnenpfad, dem wir gerne folgen.
Schweizer Feuilleton- Dienst 17.3.2017 Von Karl Wüst,
Geheimnisvoll funkelnder Text
Das Theater an der Winkelwiese in Zürich hat ein Flair für geheimnisvolle Stoffe. Nach Thomas Bernhards Monolog "Gehen" ist Robert Walsers Roman "Der Räuber" angesagt. Die quirlige Bühnenfassung von Niklaus Helbling hatte am Donnerstag Premiere.
Robert Walser hat seine Aufzeichnungen über den Räuber im Juli und August 1925 in mikroskopisch kleiner Schrift in 35 Tageswerken niedergeschrieben. Entziffert wurden sie erst 1968, zum ersten Mal veröffentlicht 1972, also 16 Jahre nach dem Tod des Bieler Schriftstellers.
Ein Heft mit kleiner Schrift trägt auch Sebastian Krähenbühl auf die Bühne. Er gibt den Erzähler, den Schriftsteller in Rosa und Schwarz, und den Räuber. Die beiden werden im Laufe des 90- minütigen Abends immer wieder verschmelzen.
"Edith liebt ihn. Hievon nachher mehr. Vielleicht hätte sie nie zu diesem Nichtsnutz, der kein Geld besitzt, Beziehungen anbahnen sollen." Krähenbühl schleudert die Worte mit strenger Miene ins Publikum und versucht so, Distanz zu wahren. Und dann taucht sie auf, die Serviertochter Edith (Mareike Sedl), die ihn am Schluss von der Kanzel schiessen wird.
Zerrüttung und Chaos
Die Ordnung auf der Bühne (Sara Giancane) mit dem baldachinartigen Zelt, dem Tisch im Mittelpunkt wird dann dem totalen Chaos gewichen sein. Mit der psychischen Zerrüttung des Räubers - und des Schriftstellers - geht die Zerstörung der Bühne einher. In der Figur und auf der Spielfläche bleibt kein Stein auf dem anderen.
Regisseur Niklaus Helbling scheut sich nicht, die tragikomische Geschichte des Räubers, dieses Aussenseiters und Sonderlings, mit allerlei technischen und turnerischen Überdrehungen in Fahrt zu bringen. Sedl und Krähenbühl sind auch den bisweilen akrobatischen Anforderungen bestens gewachsen.
Was aber besonders wichtig ist: Die Sprache geht dabei nicht verloren. Im Gegenteil: Robert Walsers überraschender, kunstvoll sprunghafter und geheimnisvoll funkelnder Text bleibt das Ereignis des Abends.
(17.3.2017 © sda/sfd)
Die Bedürfnisse der Pflanzen
Kaa LInder, RADIO DRS 2
Sebastian Krähenbühl, 38 Jahre alt, steht auf der Bühne und unterhält sich mit seiner Grossmutter deren Videobild auf eine Leinwand aus Leintüchern projiziert ist. Die Unterhaltung ist harzig, denn das Gedächtnis lässt die alte Frau immer wieder im Stich. Dann fällt ihr zum Beispiel nicht mehr ein mit wem sie da gerade redet:
„Wotsch es wüsse?“
„Ja.“
„Ich heisse Sebastian.„
„Sebastian, wie wieter?“
„Krähiebüehl.“
„Krähiebühel, Sebastian Krähiebühl“
Die Begegnungen von Enkel Sebastian und Grossmutter Silvia sind heiter und tragisch in einem. Wenn die beiden sich gerade zu verständigen beginnen reisst der Faden gleich wieder ab, oder man verheddert sich im Absurden, etwas wenn die gelernte Gärtnerin sich in ihrem Garten wähnt und über die unterschiedlichen Bedürfnisse der Pflanzen nach Wasser und Sonne rätselt. Diese kurzen Videosequenzen sind Auftakt und Abschluss einer grossen Spurensuche. Der Enkel ist auf den Estrich gestiegen um die Leintücher über der Vergangenheit buchstäblich zu lüften. Auf der Bühne kommt zwischen Holzkisten Küchenmobiliar und einem Grammophon, die akribische Dokumentation eines Frauenlebens mit Jahrgang 1918 zum Vorschein. Schubladen voller Tagebücher, handgebundene Hefte und stapelweise Briefe. Zum Beispiel der Briefwechsel zwischen der tanzverrückten Silvia und einem Buben aus der Jugendbewegung Wandervogel, dem der Volkstanz körperlich suspekt ist, was Silvia elegant zu kontern weis:
„Ihr Buben müsst den Tanz auch verstehen lernen, das kann man nur richtig wenn man selber tanzt, wenn ihr dabei glaubt die Distanz zu uns Mädchen nicht wahren zu können, so tanz halt in einem Bubenring.“
Silvias Sprachbegabung, ihr Selbstbewusstsein und ihre differenzierte Wahrnehmung hätten aus ihr, der Tochter aus guten Zürcher Hause, durchaus eine Künstlerin machen können, doch es kam anders. In den Kriegsjahren hilft Silvia auf dem Rebberghof aus, wo sie das krampfen und den Bauernsohn Werni lieben lernt. Sie heiratet und schuftet sich fast zu Tode:
„Es tut mir alles weh der Hals, wo es mich jeweils würgte, im Oberbach und um den Bauchnabel ein Klemmen und Plagen, im Unterbauch wie Steine, dazu im linken Kreuz und im rechten Ohr rupfen und plagen. Ich bin elend müde ich quäle mich herum und denke das ist die reinste Folter.“
Sebastian Krähenbühl geht in der Regie von Lukas Bangerter ganz nahe heran an diese Frau, von der er am Schluss leise sagt er habe sie nie richtig gemocht. Und er geht den Verwerfungen in ihrer Biographie so furchtlos nach, als müsste er dabei etwas über seine eigene erfahren. Mal staunt er, mal schüttelt er den Kopf, mal redet er sich in rage. Doch ist die Auseinandersetzung mit der ihm letztlich fremden Grossmutter aufrichtig und von einer emotionalen Grosszügigkeit die beeindruckt, weil der Schauspieler sie immer wieder in Theater übersetzt. Zum Beispiel wenn er das dozieren von Düngerkunde zu einem Walzertanz ausarten oder einen Briefwechsel als Dialog zweier Nachttischlitüren stattfinden lässt. Die Bedürfnisse der Pflanzen von und mit Sebastian Krähenbühl ist ein wundervolles Solostück über die Flüchtigkeit des Lebens, über die Schönheit des Vergessens und die Erinnerung, die ist wie ein Gewächshaus, in dem noch im ärgsten Winter die Kletterrosen Variationen tanzen.
TAGESANZEIGER 29.5.2012 von Corina Freudiger
Sebastian Krähenbühls „Bedürfnisse der Pflanzen“
Zürich, Winkelwiese - Zurzeit hält das echt Leben Einzug auf Zürichs Bühnen: Am Theater Specktakel setzte sich die Gruppe She She Pop mit ihren Vätern auseinander, Mike Müller führte für den Elternabend Interviews in einer schule Mats Staub befragte Meschen über ihr Liebesleben. Und nun widmet Sebastian Krähenbühl einen Abend seiner Grossmutter. Er bringt das Leben der 1918 in Zürich geborenen Silvia auf die Bühne, aber auch das Wesen des Erinnerns, auf die Oma selbst kann er nicht mehr zählen. In den Videoaufnahmen entpuppt sie sich als schlagfertig aber dement. Wo steckt die Geschichte einer Person wenn sie sich aus deren Kopf verflüchtigt hat? Sie steckt in den Dingen, wie Francesca Merz` Bühne zeigt: Holztische Kommoden und Stühle aufeinandergestapelt, wie Schichten die ein Leben ausmachen.
Überall finden sich Zeugnisse dieses Lebens; Notizen in Schubladen, Bilder auf dem Nachttischschränkchen. Krähenbühl liest aus Tagebüchern, erweckt heissblütige Briefwechsel zum Leben, projiziert Fotos auf Leintücher, leidet sich durch die Jahrzehnte harten Bauernlebens, in dem sich die Städterin Silvia nach ihrer Hochzeit mit Landwirt Werni wiederfand. Dabei wollte sie doch nur eines, Schreiben. Weil sie dies trotz strengen Wintern, „stürmischem Rüssten“ und einer zähen Ehe regelmässig tat, weil ihr Enkel sich sorgfältig, verspielt und ehrlich mit diesem Material auseinandersetzte, wird uns eine rührende Zeitreise geschenkt. Am Schluss will man länger klatschen, aber auch gleich nach Hause gehen, um seine Grosseltern anzurufen und nachzufragen, wie es damals war.
NZZ 30.5.2012 von Ann Sutter
Hommage an eine starke Frau
„Die Bedürfnisse der Pflanzen“ im Theater Winkelwiese
„Aigenttli wüsst ich seer vil aber s chunt nöd füre“, sagt Silva zu ihrem Enkel Sebastian - den sie allerdings nicht als solchen erkennt. Sie strahlt dafür umso mehr, als sie von der Verwandtschaftsbeziehung erfährt.
Der Zürcher Schauspieler und Regisseur Sebastian Krähenbühl besuchte seine zunehmend vergessliche Grossmutter Silvia Keller in den Jahren vor ihrem Tod regelmässig und zeichnete die Gespräche mit einer DV - Kamera auf. Es ist ein irer Effekt, wenn Krähenbühl nun im Theater Winkelwiese mit der 2006 verstorbenen spricht, er live sie als Projektion auf einer Leinwand aus weissen Tischtüchern mit dem Monogram „SK“. „Die Bedürfnisse der Pflanzen“ (Regie: Lukas Bangerter) heisst Krähenbühls am Freitag ausgeführter absolut sehenswerter Theaterabend, der sich um das Leben der eigenwilligen Silvia Keller dreht.
Geheime Tagebücher
1918 in eine Zürcher Künstlerfamilie hineingeboren, schloss sie sich als Jugendliche der Wandervogelbewegung an. Ihr Streben nach einer naturverbundenen Lebensweise liess Silvia in eine Bauernfamilie einheiraten. Als schwer schuftende Bäuerin merkte sie jedoch bald, dass ihre romantische Vorstellung vom Landleben nicht der Realität entsprochen hatte. Die in der Familie herrschende Kulturlosigkeit macht ihr je länger je mehr zu schaffen.
Ihre Gefühle und Gedanken hielt Silvia Keller in unzähligen Tagebüchern fest. Ihr Enkel Sebastian fand diese nach dem Tod - und hat sie nun zum (neben den Gesprächen zweiten) Fundament des Theaterprojekts gemacht, mit dem er sein Masterstudium an der Hochschule der Künste in Bern abschliesst.
Was würde wohl Silvia sagen, wenn sie wüsste, dass da ihr Persönlichstes öffentlich vorgetragen wird? Diese Frage stellt man sich als Zuschauerin immer wieder. Denn Silvias Tagebucheintragungen sind schonungslos ehrlich, sowohl sich selber als auch den anderen gegenüber. So schreibt sie etwa über ihren Mann: „Muss denn sein dicker Bauch mein Schicksal sein?“ Silvia hatte indes zeitlebens den Wunsch, etwas literarisches zu Publizieren, ja nach dem Tod ihres Mannes besuchte sie gar einen Schreibkurs, um eine Autobiographie zu verfassen, wozu es allerdings nicht mehr kam.
Heitere Erinnerungen
Und so lässt nun halt der Enkel die Öffentlichkeit am Leben dieser aussergewöhnlichen Frau teilhaben - mit einer trotz der Schwere des Themas überwiegend heiteren Theaterproduktion, die nicht zuletzt auch Erinnerung an die eigene Grossmutter und deren mannigfaltige Erzählungen weckt.
Reformiert. Aargau, 20.2.2013 von Sarah Jäggi
AUS DER VOGELPERSPEKTIVE AUF DAS LEBEN SCHAUEN
Die Grossmutter meiner Kinderheitserinnerung ist eine eher strenge, ernste Frau. Eine, die uns jedes Jahr an Weihnachten tadelte, wenn wir die Lieder nicht schön genug sangen. Dann, im Jahr 2003, wurde sie dement, begann sich und ihr Leben zu vergessen, wurde sanfter und hatte plötzlich eine Leichtigkeit, die uns völlig neu war.
Kein Tag ohne Eintrag.
Nach ihrem Tod begann ich, ihre Tagebücher zu lesen. Unglaublich viele Tagebücher. Sechzig Bücher, die ihren Alltag während zwanzig Jahren akribisch dokumentieren. Jedes Buch sieht gleich aus, jedes ist von Hand gebunden, jedes mit einem kleinen Kartonschild beschriftet. Sechzig Bücher lang. Kein Tag ohne Eintrag, kein Tag, wo nicht stünde, wie das Wetter war, was sie kochte, welche Arbeit im Garten zu tun war. Diese Art, wie sie ihr Leben verschriftlicht hat, hat mich fasziniert. Als ob sie sich selbst erst im Schreiben gespürt hat, schien es zu ihrem Leben zu gehören. Dabei hat wohl niemand geahnt, wie fundamental wichtig ihr das Schreiben war. Schon als Kind hatte sie angefangen, alles zu dokumentieren und ihre Briefe zu sammeln. Alles fein säuberlich geordnet.
Was bleibt nach dem Tod.
Zuerst war ich erschlagen von all dem Material, das zum Teil sehr persönlich war. Was gibt mir das Recht, dieses zu lesen? Es zu einem Theater zu verarbeiten? Die Antwort fand ich im Geschriebenen: Offenbar hatte sie, als ihr Mann gestorben und sie nach Muri gezogen war, einen Fernkurs für literarisches Schreiben in Hamburg absolviert und mit dem Gedanken gespielt, ihre Lebenserinnerungen zu veröffentlichen. Dies gab mir die Gewissheit, dass es nicht falsch war, was ich tat. Die Arbeit am Stück war eine intensive Auseinandersetzung mit dem Leben an sich, auch mit dem eigenen. Eine Auseinandersetzung mit Wertvorstellungen, mit Vergänglichkeit und der Frage, was bleibt, wenn man nicht mehr ist. Leben wir in den Erinnerungen der andern weiter? Leben wir gar nur in den Geschichten weiter, die andere über uns erzählen?
Was im Innersten Bestand hat.
Was mich an der Auseinandersetzung mit diesem Material am meisten berührt hat: Dass sich mir durch die Texte, die sich über fast hundert Jahre erstrecken, ein ganzes Leben ausbreitete und ich quasi aus der Vogelperspektive darauf schauen konnte. Zu sehen, wie sich das Leben entwickelt, wie manches bleibt und anderes geht und welche Entscheide bedeutsam waren.
Aargauer Zeitung, 14.2.2013
REGISSEUR INSZENIERT THEATERSTÜCK MIT TAGEBUCH SEINER GROSSMUTTER
Alles begann mit dem Vergessen: Sebastian Krähenbühl kannte seine Grossmutter Silvia nicht sehr gut, doch er bemerkte, dass sie sich veränderte, als ihre Demenz sie langsam Dinge vergessen liess. «Geschichten, die sie oft erzählt hatte, wurden plötzlich anders, sie vermischte Sachen. Das Spannendste war, dass die Frau, die ich als hart, beinahe gnadenlos gekannt hatte, auf einmal weich und sentimental wurde.» Die Faszination liess ihn nicht mehr los [...]. Er führte Videointerviews mit der über 80-jährigen Silvia. Und nach ihrem Tod 2006 las er ihre Tagebücher und Briefe. So erfuhr er ihre Geschichte – und brachte sie auf die Bühne.
Lange Zeit wusste Krähenbühl nicht, was er nun mit all den beschriebenen Seiten und Videoaufnahmen anfangen sollte. «Aber etwas musste ich machen, sonst hätte ich es ewig mit mir herumgetragen.» Der Schauspieler nahm sich ein halbes Jahr Zeit dafür. Zusammen mit Regisseur Lukas Bangerter und anderen entstand das Stück «Die Bedürfnisse der Pflanzen». Darin liest Krähenbühl aus Tagebüchern und Briefen vor, führt aber auch ein Interview, auf dessen Fragen Silvia von der Leinwand aus antwortet. «Ich habe mir sehr lange überlegt, ob ich das machen darf. Aber sie zeigte in ihren Briefen und einer angefangenen Autobiografie so viel Mitteilungsdrang, dass ich es vertretbar finde.»
Der Titel des Stücks entstammt übrigens den Videoaufnahmen: «Einmal schaute meine Grossmutter ihre Topfpflanzen an und konnte nicht verstehen, weshalb deren Bedürfnisse nicht alle gleich sind. Sie sagte, es sei doch dasselbe Wasser und dasselbe Licht. Ich fand das sehr spannend.» [...]
Karl Wüst, SFD, 26.5.2012
DIE GROSSMUTTER UND IHRE GESCHICHTE
Der Zürcher Schauspieler und Autor Sebastian Krähenbühl bringt das Leben seiner Grossmutter Silvia auf die Bühne des Theaters an der Winkelwiese in Zürich. Sein Stück «Die Bedürfnisse der Pflanzen» ist am Freitag uraufgeführt worden.
Eigentlich habe er seine Grossmutter gar nicht so gern gehabt, der Grossvater Werni sei ihm näher gewesen, sagt Sebastian ganz am Schluss des 90-minütigen Abends. Man ist überrumpelt. Warum hat er dann in seinem Stück den Eindruck erweckt, seine Beziehung zur Grossmutter Silvia sei verständnisvoll, bisweilen sogar liebevoll?
Weisch du, wer ich bin?
In diese Richtung deutet schon der Einstieg, der nicht überraschender sein könnte. Sebastian spricht mit Silvia, die, als demente Frau gefilmt, verwirrt auf seine Fragen antwortet. «Weisch du, wer ich bin?» «Chunt nöd», sagt sie und lächelt.
Sebastian hat diese Gespräche geführt und gefilmt, als er feststellte, dass seine Grossmutter vergesslich und unselbständig wurde. Eine ihm nahe Lebensgeschichte drohte verloren zu gehen, ihr wollte er auf der Spur bleiben.
Als Silvia 2006 starb, stiess Sebastian auf zahlreiche schriftliche Zeugnisse von ihr: Tagebücher, Briefe, ein Theaterstück, Reden für Geburtstagsfeiern, Protokolle. Daraus hat er sein Sück geschrieben.
Eine Installation aus alten Möbeln, Lampen, einem Radio, Erinnerungsstücken bildet den Bühnenraum (Francesca Merz). Darin bewegt sich Sebastian unter der Regie von Lukas Bangerter erzählend, spielend, tanzend, singend und öffnet so dem Publikum die Tür zu Silvias Leben.
Das gelingt ihm trotz sprachlicher Unsicherheiten eindrücklich. Silvia, in gutbürgerliche städtische Verhältnisse hineingeboren, liebt die Natur. Sie lernt Gärtnerin und entwickelt ein Gespür und wissenschaftliches Interesse für «die Bedürfnisse der Pflanzen».
Sie schliesst sich der Bewegung der Wandervögel an und heiratet in eine Bauernfamilie hinein. Doch diese Welt zeigt sich im Alltag anders als erwartet. Die bäuerliche Lebenweise bleibt ihr fremd. «Diese brennende Sehnsucht nach Kultur und gar kein Verständnis meiner Umgebung», schreibt sie verzweifelt in ihr Tagebuch.
Neue Lebenslust
Nach dem Tod ihres Mannes Werni findet Silvia zu einem neuen Leben. Sie belegt Schreibkurse und nimmt an Tanzveranstaltungen für Seniorinnen und Senioren teil. Ihre pfiffige und emanzipierte Art im Umgang mit ihren Tanzpartnern bringt Sebastian Krähenbühl in seinen Tanzeinlagen schön zum Ausdruck.
Diese Einlagen beenden einen Theaterabend, der Geschichte und Gegenwart anhand einer eindrücklichen Frauenbiografie und mit allerlei technischer Raffinesse verbindet.
Bleibt die Frage, ob Sebastian seine Grossmutter tatsächlich weniger gern gehabt als seinen Grossvater. Oder ob seine intensive und lange Beschäftigung mit dem umfangreichen schriftlichen Material einfach nur zu einer Übersättigung geführt hat. Seine trotzig hingeworfene Aussage am Schluss könnte darauf hinweisen.
P.S., 31.5.2012 von Thierry Frochaux,
SCHMALER GRAT
Sebastian Krähenbühls Master-Arbeit im schwierig konkret fassbaren Fach «Science Arts Practice» an der Hochschule der Künste Bern ist eine von Lukas Bangerter hervorragend inszenierte Auseinandersetzung mit dem Leben der vor sechs Jahren verstorbenen Grossmutter. Der Grat zwischen Absturz ins einzig Private mit der Gefahr, die Oma vorzuführen, und der Glanzleistung, eine Epoche und ein Lebensgefühl anhand einer einzigen Vita exemplarisch aufzuzeigen, ist extrem schmal.
Das Problem kennen alle in und um die darstellenden Künste Tätigen: Wenn das Eigeninteresse an einem spezifischen Inhalt aus irgendwelchen Gründen übergross ist, droht die Fussangel der mangelnden kritischen Distanz, die im Resultat als gutgemeinte Betroffenheitsarbeit rauskommt und natürlich nicht befriedigt. Sebastian Krähenbühl schafft den Spagat während seiner rund neunzigminütigen Performance hauptsächlich gut, wenngleich er sich immer mal wieder gefährlich nahe an diesen Abgrund begibt. Was in «Die Bedürfnisse der Pflanzen» sehr gut gelingt, ist das quasi für die Bühne lebendig machen der Grossmutter, die als junge Frau aus urban-künstlerisch-intellektuellem Milieu in ein bäuerisch-ländlich-hemdsärmliges einheiratete. Dank mehreren Laufmetern Tagebuch, das sie über Jahrzehnte führte, ist ihr (Innen-) Leben während dieser für sie schwierigen Zeit sehr gut dokumentiert und ihre Betrachtungen über die Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit gehören zu den universell gültigen Aussagen über ein Frauenleben der Epoche. In dieselbe grundsätzliche Richtung als Fragen zur eigenen Existenz respektive der Menschheit als solches überhaupt, geht das Thema der schwerpunktmässigen Bestrebungen und Beschäftigungen während eines jungen/mittelalterlichen Lebens und der gegenübergestellten (hier durch Demenz stark abstrahierten) rückblickenden Erkenntnis im Alter. Zwar deutet bereits der Titel und die Eingangssequenz auf Video mit späterer Auflösung in der genauen Umkehr bereits darauf hin, doch in anderen Fragestellungen dürfte dieser Zusammenhang ruhig sehr viel stärker hervorgehoben werden, damit er als eigentliches Goal der Arbeit erkennbar würde. Jetzt stehen Titel plus eine gefilmte Aussage von Silvia Keller, sie könne sich nicht erklären, weshalb ein und die selben Zimmerpflanzen in verschiedenen Töpfen unterschiedlich viel Wasser zum Überleben benötigten, auf der einen Seite, einem sehr profunden - und ungemein witzig inszenierten - Wissen über die chemische Zusammensetzung der Fauna und deren bestmöglicher Behandlung etwa durch Düngung in früheren Jahren gegenüber. Die Anlage ist entschieden da, geht sogar in der dargestellten Art weit über diese konkrete Frage hinaus, denn Themen wie Liebesheirat in unterschiedliche Milieus, das nötige Durchsetzungsvermögen als Frau in der Mitte des letzten Jahrhunderts oder die bare Härte, unterstützt von sehr deutlichen Einsamkeitsgefühlen eines Bäuerinnenlebens hinaus. Durch die vertikale wie horizontale Verteilung des ehemaligen Mobiliars auf jeweils drei Ebenen übernimmt Francesca Merz die Vielschichtigkeit eines Menschenlebens als Bühnenelement, das Sebastian Krähenbühl als Urheber wie Darsteller transportiert. Der annähernd teilweise sprunghafte Wechsel dazwischen dient vor allem der formalen Kurzweil eines letztlich hauptsächlich erzählten Abends, steht dafür dem pointierteren Herausschaffen des Krähenbühl am meisten Beschäftigenden etwas im Weg. Dass die inhaltliche Gratwanderung ihre Auswirkung natürlich zuerst auf das Formale, letztlich aber sogar auf das Bühnenbild hat, zeugt vom Bewusstsein dieser grossen Schwierigkeit. Das Leben einer ziemlich nahen Verwandten mit einem emotionalen Andenken, das auf wolkigen bis klaren Erinnerungen basiert - das durch die Bearbeitung der Textmenge aber erst um zahlreiche weitere Facetten ein Erfassen einer ganzen Persönlichkeit ermöglicht, durch bühnenperformative Mittel miteinander zu verbinden und dabei grossmehrheitlich zu reüssieren, müsste als Master-Arbeit eigentlich eine genügende Punktezahl zur Folge haben.
Seniorweb Online, 28.5.2012
BERÜHRENDES DOKUMENTARTHEATER
Silvia Krähenbühl, 2006 verstorben, war eine begabte Schreiberin. Minutiös hat sie in unzähligen säuberlich beschrifteten Tagebüchern ihr berührendes Schicksal festgehalten. Aufgewachsen in einem gutbürgerlichen, fortschrittlichen Stadthaus, entschliesst sie sich für eine naturverbundene Lebensweise. In ihrer Jugend engagiert sie sich in der Bewegung der Wandervögel, macht eine Gärtnerlehre und heiratet dann in eine Bauernfamilie hinein. Im Alter, nach dem Tod ihres Mannes, interessiert sie sich für kulturelle Angebote, macht Volkstanz, spielt Theater und absolviert einen Fernkurs für literarisches Schreiben.
Auf Spurensuche
Der junge Schauspieler und Regisseur Sebastian Krähenbühl macht sich auf Spurensuche, beackert die Tagebücher und Fotos der eigenen Grossmutter und macht daraus ein Dokumentarspiel. Entstanden ist ein berührendes Spiel um Erinnerungen und deren Deutung, das am Pfingstwochenende unter dem Titel «Die Bedürfnisse der Pflanzen» im Zürcher Kleintheater Winkelwiese seine Uraufführung erlebte. Eröffnet werden die Nachforschungen über ein fremdes Leben mit Videoeinspielungen, die kurz vor dem Tod der Grossmutter aufgenommen wurden. Die filmisch festgehaltenen Gespräche liefern ein erschreckendes Bild der Vergesslichkeit. Sichtbar wird eine demente Frohnatur, die sich kaum noch an ihre Liebsten erinnern kann. Von der einstigen Kämpferin ist nicht mehr viel zu spüren.
Und so wird aus den Tagebüchern zitiert, werden vergilbte Fotos auf einen TV-Bildschirm projiziert. Vieles bleibt nur angedeutet, einiges nachgespielt. Erkennbar wird ein Schicksal mit vielen Idealen und noch mehr Enttäuschungen. Erzählt wird die behütete Kinderzeit in gutbürgerlichem Milieu, dann die Zeit bei den Wandervögeln mit hohen moralischen Ansprüchen und Erwartungen, dann das harte und desillusionierende Leben auf dem Bauernhof, schliesslich der Aufbruch in kulturelle Aktivitäten. Gezeigt wird die subtile Annäherung an ein Leben, das doch fremd bleibt. Entspricht das dokumentierte Leben dem realen Leben der Grossmutter? Diese Frage bleibt unbeantwortet.
Starke Momente
Zu Beginn präsentiert sich eine mit weissen Leintüchern zugedeckte Bühne. Einmal entfernt, gleicht die Bühne einer Abstellkammer mit aufgestapelten Tischen, Stühlen und Kommoden. In den Schubladen sind die Tagebücher und Fotos untergebracht (Bühnenbild: Francesca Merz). Der Enkel Sebastian jongliert zwischen den Möbelstücken, holt Erinnerungsstücke hervor, liest aus den akribisch geordneten Tagebüchern und anderen Schriften vor, zeigt Jugendfotos, demonstriert zur Erheiterung des Publikums die Tanzleidenschaft der Grossmutter. Regisseur Lukas Bangerter zeigt kein lärmendes Drama, sondern erzählt, aufgelockert mit szenischen Einlagen, faktenorientiert und doch äusserst subtil das wechselvolle Leben der Grossmutter. Entstanden ist ein Dokumentartheater mit starken Momenten, das berührt und zum Nachdenken anregt. Sebastian Krähenbühl spielt den suchenden und fragenden Enkel sympathisch zurückhaltend und obendrein gekonnt theatralisch. Eine gelungene Inszenierung auf kleiner Bühne.
NEPAL
Stimulierende Fragmente einer Vergangenheitssuche
Tagesanzeiger von Isabel Hemmel, 06.12.2014
Zürich, Fabriktheater – Da sind diese Bilder im Kopf: das gelbe Sonnenlicht, ein Schatten und der Bub, der auf der Gabel eines Erwachsenenfahrrads sitzt und durch die Strassen von Kathmandu gefahren wird. Der Junge heisst Sebastian Krähenbühl. Der Schauspieler, inzwischen vierzig, ist jetzt Hauptfigur seines eigenen Stücks und lässt schwach beleuchtet, fast schüchtern, diesen Moment seiner Kindheit Revue passieren.Wie schon im ersten Solo «Die Bedürfnisse der Pflanzen» gehts auch in «Nepal» ums Erinnern, um das, was bleibt und was es uns bedeutet. 1977 zog Krähenbühls Familie für mehrere Jahre nach Nepal, wo der Vater als Entwicklungshelfer Hängebrücken baute. Eine Brücke versucht nun auch der Sohn zu schlagen zwischen den Erinnerungsfetzen und dem, was er heute über das Damals herausfinden konnte. Sie wird ein Fragment bleiben. «Nepal« basiert auf den Ton- und Bilddokumenten einer einmonatigen Nepal-Reise von Krähenbühl und Regisseur Lukas Bangerter. Videos zeigen Krähenbühl auf der Suche nach dem Haus seiner Kindheit durch Strassen irrend oder im Karussell schwebend; den Bildern stehen langatmige Erläuterungen zur Konstruktion von Hängebrücken und nachgespielte Gespräche über Entwicklungshilfe gegenüber. Zusammen ergibt das weniger einen Theaterabend als vielmehr eine performative (Video-)Installation. Man kann das zu wenig finden. Oder man taucht ein ins stimulierende Traumgeflecht und lässt sich berühren. Etwa da, wo Krähenbühl auf der Leinwand zwei Köpfe grösser in einer Menge von Nepalesen steht, völlig fremd und doch scheinbar angekommen.
Ein Altar für Hängebrücken
Neue Zürcher Zeitung von Katja Baigger, 06.12.2014
Der Ankündigungstext liess einen denken, man begebe sich bei "Nepal" in eine "Gschpürschmi-Veranstaltung" von Hippies auf dem Selbstfindungs-Trip. Doch zum Glück ist nicht jede Theatertruppe, die am Schreiben von Programm-Abstracts scheitert, auf der Bühne eine schlechte. Im Gegenteil: Sebastian Krähenbühl, authentischer Protagonist des Solostücks im Fabriktheater, und Lukas Bangerter, Regisseur, kreieren einen (selbst)ironischen, autobiografischen Bilderbogen voller Roadmovie- und Dokumentartheater-Versatzstücke. Zum Gelingen trägt das Bühnenbild bei, das aus einem wandelbaren Kasten besteht. Zunächst steigt Krähenbühl aus einem erleuchteten Fenster, lässt daraufhin den Rollladen wieder herunter. Dunkel ist′s (ein Stromausfall wie einst in Nepal?), und es scheint, als wäre alles gesagt. Dann richtet Krähenbühls Vater via Video aus: „ich wusste damals nicht was ich will.“ Stille. Selbstironie ist ein wichtiger Bestandteil des Abends, während dessen die Entwicklungshilfe auch einmal infrage gestellt wird. Später entspinnt sich ein charmanter Video-Dialog des Elternpaars Krähenbühl, das mit seinen drei Söhnen nach Nepal ging, wo das Vater Hängebrücken baute. Sohn Sebastian erinnert sich etwa an den Hauseigenen Gärtner Ganesh. Er begibt sich nach Kathmandu, wo er vagen Spuren folgt, die seine kindliches Gedächtnis einst speicherte. Hierzu wird er vervielfacht: Drei Videos des indem Strassen Kathmandus umherirrenden plus ein Sebastian Krähenbühl live auf der Bühne als „Koordinator“ mit einem Stadtplan von 1976 und einem von heute. Die „gemeinsame“ Suche führt in einen Tempo und zu Ganesh, mit dem sich Krähenbühl kaum verständigen kann. Das wissenschaftliche Hängebrücken - Triptychon dreht sich, ein hinduistisch - buddhistischer Altar kommt zum Vorschein. Krähenbühl öffnet und schliesst diesen. Die Erinnerung ist zurück - und wird getrost wieder im Kasten verstaut.
SMITT
von Georg Klein
Im Sog der Röhren «Smitt» von Krähenbühl & Co.
NZZ von Bettina Spoerri
Bevor Harm Jan Smitt beinahe spurlos verschwand, hatte er ein zunehmend auffälliges Verhalten an den Tag gelegt. Eine der Absonderlichkeiten des noch neuen Mitarbeiters bei der «WAG»-Behörde («Wasser, Abwasser und Gas»), der für die «Rohbilddeutung» des Fernheizungssystems unter dem Boden zuständig war, bestand etwa in der Deklaration einer tagelangen Quarantäne, die er sich selbst auferlegte, oder aber in seinen überschwänglichen Umarmungen von Kollegen, wenn diesen beispielsweise besonders präzise Freihandschnitte gelungen waren. Manchmal begann er auch, zum Entsetzen seiner Mitarbeiter, die jahrhundertealten glatten Innenwände der unterirdischen Röhren zu lecken.
Die Vorlage des Theaterstück «Smitt», das am Donnerstag im Theater an der Winkelwiese seine Uraufführung erlebte, ist eine Erzählung von Georg Klein, die vor acht Jahren in dessen Erzählband «Anrufung des Blinden Fisches» erschien. Der Schauspieler und Regisseur Sebastian Krähenbühl − soeben mit einem Werkstipendium der Stadt Zürich ausgezeichnet − hat sich an eine Bühnenadaptation des monomanischen und absurd-skurrilen Prosatextes gewagt, in dem der deutsche Schriftsteller den technischen Wortschatz der Röhrenspezialisten als verfremdendes Stilmittel einsetzt. Das Resultat ist eine durchdachte, technisch ausgefeilte und gleichzeitig wunderbar verspielte Inszenierung.
«Smitt» ist zuerst einmal eine Art Rechenschaftsbericht. Harm Jan Smitts Vorgesetzte (gespielt von Sebastian Krähenbühl und Andreas Schröders) versuchen die Geschehnisse vor seinem rätselhaften Verschwinden zu rekonstruieren. Smitt fiel schnell als «findungsreicher Fachmann» und begnadeter Bastler auf. Der als «Rohbilddeuter» angestellte neue Mitarbeiter begann sich vor allem obsessiv mit den Möglichkeiten kleiner Camcorder zu beschäftigen. Seine Nachbearbeitungen der Filmaufnahmen aus dem verwinkelten Röhrensystem dienten bald eindeutig nicht mehr wissenschaftlichen Zwecken, sondern wurden: Kunst.
Je länger sich aber die beiden «WAG»-Beamten in ihren mausgrau gestreiften Anzügen mit Smitts Besonderheiten auseinandersetzen, desto verhaltensauffälliger und manischer werden sie selbst; die Distanz zum Objekt ihrer Untersuchung schmilzt dahin. Von Anfang an sind die beiden umgeben von Kameras, Bildschirm und Leinwand, die den Theaterraum zusehends in ein komplexes Spiegelkabinett verwandeln (Video, Bau, Technik: Daniel Hertli, Manuel Caspani, Aymeric Nager). Und nicht nur die visuellen, sondern auch die akustischen Quellen kehren verwandelt wieder, etwa als kunstvolle Rap-Einlage mit Tonbandgeräten. Spätestens wenn sich die beiden Männer Abdichtungsmaterialien wie etwa Silikonschläuche, sogenannte «negative Strümpfe», körperlich anverwandeln, wird klar, dass auch sie unweigerlich dem Sog des Smittschen Röhren-Universums verfallen sind − und wir Zuschauer mit ihnen.